Sonntag, 12. November 2017

Leitkultur - Eine Betrachtungsweise



Leitkultur – Plädoyer für eine Kultur, die uns leitet und die wir leiten

Ich bekam vor einigen Wochen zufällig eine Debatte in einer klassischen Düsseldorfer-Altstadt-Kneipe mit, bei der es um Flüchtlingsströme, Integration und das Volk ging. Eine der debattierenden Personen sagte im Verlaufe des Gesprächs irgendwann, dass „diejenigen, die zu uns kommen, sich doch an unsere Kultur anpassen müssten“. Sofort kam mir in den Kopf: Aha, eigentlich geht es also mal wieder um die Leitkultur.
Dieser Begriff fand in der gesellschaftspolitischen Debatte sowohl durch die CDU-Politiker Jörg Schönbohm 1998 und Friedrich Merz 2000 – neben dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der den Begriff maßgeblich geprägt hat – an der Schwelle zum neuen Jahrtausend Einklang, brach Mitte des letzten Jahrzehnts nach einer ruhigeren Phase wieder auf und hat seinen (vorläufigen) Scheitelpunkt durch den Anstieg der Flüchtlingszahlen seit 2015 erfahren.
Dabei soll der Begriff der Leitkultur in diesem Kontext Fragen beantworten, allerdings – so mein Eindruck – erzeugt er eher neue Fragen: Geht es hier um eine Kultur, die alle „leiten“ soll und aus der man nicht „ausscheren“ darf? Was bedeutet es, wenn man dieser Kultur, die leiten soll, nicht „folgen“ möchte?

Der Begriff ist kompliziert und einfach zugleich: Das alltägliche Zusammenleben basiert auf gewissen kulturellen Gepflogenheiten. Bestimmte Werte, die ein konstruktives kollektives Zusammenleben ermöglichen, wobei der individuellen Entfaltung Platz gelassen wird, sind grundlegend für jede Gesellschaft und Kultur. Diese sind jedoch nicht starr, sondern müssen sich in neuen Kontexten immer wieder bewähren und sind daher einem dynamischen Wandel unterworfen. Geht man von dieser Prämisse aus, stellt sich die Frage, wie sinnvoll es beispielsweise wäre, Migranten und Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, eine Leitkultur „aufzuzwingen“.
Dagegen stelle ich die These auf, dass eine Leitkultur kein „Ziel“ einer politischen Bildung und Integration ist, sondern der „Ausgangspunkt“, der die Grundlagen bietet, um auf die je neuen Herausforderungen zu verschiedenen Zeiten plausibel und überzeugend antworten zu können. Daher muss der Begriff „Leitkultur“ nicht zwingend ein klar definierter Begriff sein, sondern ein Synonym für die Debatte um das oben beschriebene Verhältnis von kulturellen Grundlagen und konkreten Herausforderungen.
Da diese „Grundlagen“ in diesem Konstrukt so wichtig sind, lohnt es sich, sie näher zu betrachten, zunächst einmal historisch: Die deutsche Kultur, Gesellschaft und der deutsche Staat haben durch die zwei Weltkriege, und hierbei vor allem durch den Zweiten Weltkrieg, einen starken „Cut“ erfahren. Dies sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man über den Begriff „Leitkultur“ spricht, dem ich fünf Parameter zuordne:

Verfassung, Kultur (dazu gehörend Religion), Sprache und Bildung(sideal).

Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist das Grundgesetz. Das Besondere an dieser Verfassung ist, dass sie elementare Grundrechte, Menschenrechte, aus dem außergewöhnlichen historischen deutschen Kontext entstandene Lehren und gleichzeitig Entfaltungsmöglichkeiten einer freien, aber auf bestimmten Werten basierten Gesellschaften in einzigartiger Weise miteinander verknüpft. Das Grundgesetz hat für die Menschen ab 1949 in der deutschen Geschichte einzigartige Möglichkeiten geschaffen und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Menschen aus anderen Staaten, Kulturen und Gesellschaften ein freiheitliches Leben zu ermöglichen. Doch das Grundgesetz darf kein Ersatz für eine Kultur bzw. kulturelle Identifikation sein, sondern es ist eine Grundlage dessen. Als Beispiel sei hier die Geschlechtergerechtigkeit genannt, die ein Grundrecht ist, aber trotzdem immer der (Fort-)Entwicklung unterworfen war und ist und somit die Kultur Deutschlands immer mitbestimmt hat und weiterhin mitbestimmt.
Die Grenzen und gleichzeitig Chancen des Grundgesetzes werden im Kontext der kulturellen Integration von Menschen aus anderen kulturellen Kontexten deutlich.
Grenzen, weil das Grundgesetz (in den historischen Kontexten von) 1949 verfasst wurde und dort an Gastarbeiter, „Einwanderungsland Deutschland“ oder Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika noch nicht zu denken war. Chancen, weil es bei Reibepunkten und Konfrontationen vor allem mit seinen ersten neunzehn Grundrechten unverrückbare Prinzipien bietet, die die Basis bilden, um mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen fertig zu werden. Diese ermöglichen dann nicht nur eine Integration der Menschen, sondern auch eine „Integration der Kulturen“; eben auf der Basis des Grundgesetzes und damit wird aus einer exklusiven Kultur eine inklusive „Kulturgemeinschaft“.

Fragt man nach den konkreten „Werten“ und „Eigenschaften“ der deutschen Kultur, wird u.a. auf Pünktlichkeit, Höflichkeit, Ordnung und Disziplin verwiesen. Abgesehen davon, dass dies auch universale Eigenschaften sind, plädiere ich als angehender Historiker dafür, die in der deutschen Geschichte oftmals militaristische Verwendung dieser Eigenschaften zu bedenken. Doch diese „deutschen“ Eigenschaften (ich sehe sie in meiner eigenen Familie bestätigt) sind das beste Beispiel für Werte, die in einer Kultur gleichzeitig „fest verankert“ sein können und dennoch wandelbar sein sollten.
Daneben wird immer wieder auf die „christlich-abendländische Tradition“ verwiesen. Als angehender Historiker und Theologe würde ich diesen Begriff im Kontext der Leitkultur-Debatte unterschreiben. Das Grundgesetz beispielsweise ist „im Bewusstsein vor Gott und den Menschen“ verfasst, die Synthese zwischen Staat und Christentum bestimmt einen Großteil der deutschen Geschichte und des „deutschen Denkens“ bis heute. Ich unterschreibe ihn jedoch nicht, wenn er exklusiv, Menschen mit anderen religiös-kulturellen und religiös-gesellschaftlichen Vorstellungen abwertend, benutzt wird und gemeint ist.
Stattdessen findet seit nunmehr knapp 250 Jahren mit Beginn der Aufklärung eine besondere Synthese in Europa und Deutschland statt: Die Synthese zwischen Glauben und Vernunft und damit einhergehend die Kritik und Entwicklung des einen durch das andere. Durch das positive Religionsrecht (vgl. GG, Art. 4, Abs. 2) wird zudem die Möglichkeit geboten, Religion auch im öffentlichen Raum auszuleben, ohne die Trennung von Staat und Religion zu verletzen. Somit ist Religion sinnstiftend, aber – im staatlichen und kulturellen Sinne – nicht alleine sinnerklärend.

Diese Aspekte – Verfassung, Kultur und Religion – müssen aber sowohl in Deutschland geborenen Menschen als auch Zuwanderinnen und Zuwandern vor allem durch das Medium der Sprache nahegebracht werden. Dies hat im „Land der Dichter und Denker“ eine besondere Bedeutung.
Sprache ist zudem das Hauptmedium des menschlichen Miteinanders und beugt Missverständnissen und Milieubildungen und damit Abschottungen vor. Dabei muss man sich von zwei Seiten einander annähern: Der Wille zum Erlernen der deutsche Sprache ist hilfreich, aber auch die Fähigkeit, dazu motivieren zu können. Im Zweifelsfall wird die Initiative vom deutschen Staat und dessen Bildungseinrichtungen und der deutschen Gesellschaft das entscheidendere Moment sein.
Daher ist Bildung, die entscheidende Komponente. Schulische und berufliche Bildung bietet die Grundlage für wirtschaftliche Sicherheit, über die der Zugang zu den anderen erläuterten Aspekten einfacher wird. Spricht man jedoch über den Begriff der Leitkultur, so muss man konstatieren, dass der rein kognitive und ökonomische Zugang nicht ausreicht, sondern gerade hier sind politische und gesellschaftliche Bildung, die geisteswissenschaftlichen Fächer in Schule, Universität und Gesellschaft und der gesellschaftliche und politische Austausch gefordert. Ein wichtiger Aspekt ist dabei das Herausbilden kritischen Denkens im Sinne der Ideale der Aufklärung. Daher ist eine demokratische Debatten- und Diskussionskultur unablässig. Gerade weil die deutsche Gesellschaft zu einer immer dynamischeren und heterogeneren Gesellschaft wird, braucht es auf journalistischer, politischer, gesellschaftlicher und religiöser Ebene einen Austausch, der eben humanistischen, aufklärerischen und demokratischen Grundlagen Stand hält. Dazu gehört auch bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement.

Menschen brauchen Orientierung, individuell und gemeinschaftlich, zusammengeschlossen in einer Gesellschaft. Erst gemeinsame Nenner und Verbindlichkeiten sorgen für Toleranz, ohne in die Beliebigkeit abzurutschen. Somit werden die Grundlagen für ein wirkliches Miteinander geschaffen statt einem Nebeneinander, das meiner Ansicht nach zu Abschottung und Milieudenken und letztlich zu Parallelgesellschaften, gleich welcher Art, führen kann.
Deshalb sage ich: Wir „brauchen“ keine Leitkultur, wir haben eine, aber es darf keine Leitkultur sein, die ausschließlich uns „leitet“, sondern eine, die auch wir, individuell und gemeinschaftlich, „leiten“.

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