Mittwoch, 10. Mai 2017

#noReligion? Gedanken zur (christlichen) Religion und individualistischem Glaubensbild in der westlichen Gesellschaft

Servus, Moin, Tach auch, Hallo!

Nach fast einem halben Jahr melde ich mich hier im Blog mit einem neuem Beitrag zurück. Leider (oder vielleicht Gott sei Dank) lebt sich das Leben nicht von alleine und deswegen fehlt einem bisweilen die Zeit für solch schöne Dinge wie diesen Blog. Aber nun bin ich ja wieder zurück, von daher: Bitte beruhigen da.

Heute werde ich über das Verhältnis von individualistischem (Gottes-)Glauben und christlichen respektive kirchlichem Glauben schreiben [andere Religionen, allen voran der Islam, sind nochmal ein Thema für sich, es wird sich hier auf den christlichen Glauben beschränkt]. Direkt vorneweg: Ich werde keine Fachliteratur hinzuziehen, d.h. dieser Beitrag hat eher den Charakter eines Essays. Selbstverständlich wurde und wird über diese Thematik auch in theologischen, sozialwissenschaftlichen und/oder religionswissenschaftlichen Beiträgen nachgedacht, wodurch entsprechende Aspekte dort deutlich fundierter präsentiert werden können als hier. Aber das ist schließlich auch nicht der Anspruch eines solchen Blogs, sondern es stehen in diesem Blog meine (persönlichen) Gedanken zur Diskussion und Disposition.

Ich werde meine Gedanken zum Thema durch Thesen darstellen, die ich anreißend erkläre. Zu jedem Gedanken bzw. jeder These kann natürlich noch mehr (fachwissenschaftlich) gesagt werden [wie bereits erwähnt].

1   Der Status quo

Sieht man sich das Glaubensfeld in Europa an (Amerika ist gesondert zu betrachten), so zeigt sich, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die kirchliche Gebundenheit und der Gottesdienstbesuch kontinuierlich abgenommen haben. Daran haben weder das Zweite Vatikanische Konzil (Eine Kirchenversammlung zur "Modernisierung" der katholischen Kirche) noch die Bemühungen der beiden Großkirchen (protestantisch und katholisch) etwas geändert.
Kirche als religiöse Institution wird allgemein kritisch betrachtet, sei es aufgrund von vermeintlichen Verfehlungen in der Geschichte (ältere sowie jüngere), sei es, weil sie als "verstaubt" und "einschränkend" empfunden wird.
Wird der monotheistische Gottesbegriff (Theismus = Glaube an eine Gottheit, die in die Welt und das menschliche Geschehen eingreift)  nicht von vornherein abgelehnt, handelt es sich also nicht um einen Atheisten (jemand, der die Existenz einer über geordneten Macht wie Gott ablehnt) oder um einen Agnostiker ("Suchender", jemand, der eine übergeordnete Macht nicht ausschließt, aber auch kein konkretes Gottesbild hat bzw. an keinen konkreten Gott glaubt), zeigt sich in der westlichen Gesellschaft oftmals ein individualistisches Gottesbild, das sich von Individuum zu Individuum stark unterscheidet.

2   DREI Thesen, warum das individualistische Gottesbild eine Form des monotheistischen Gottesbildes ist

(1)   Die Möglichkeit von EINEM Gott ist erst durch die "monotheistischen Religionen" geboten worden.

Obgleich sich individualistische Gottesbilder (so meine Beobachtung) von kirchlichen und christlichen Gottesbildern abgrenzen (wollen), nehmen sie in 99% der Fälle die Vorstellung eines Gottes auf. Warum äußern sich moderne individualistische Gottesbilder nicht in polytheistischen (Polytheismus = Glaube an mehrere Götter) Gottesbildern?

Meine These: Weil sich auch individualistische Gottesbilder an dem jüdisch-christlichen Gottesbild eines Gottes orientieren und diesen Gedanken anders übersetzen. Ohne die Kenntnis (und sei es nur eine oberflächliche Kenntnis) eines monotheistischen Gottesbildes könnten die Gottesbilder genauso gut polytheistisch sein.

(2)   Die Ethik dieser individualistischen Gottesbilder ist eine fortgeführte Ethik der jüdisch-christlichen Ethik.

Denkt man an die Kirche, so kommt vielen Menschen eine vermeintliche Doppelmoral in den Kopf. Auf der einen Seite wird Nächstenliebe, Armut, Enthaltsamkeit und eine klare Sexualmoral aufgezeigt, auf der anderen Seite gibt es Prunk, Ausschweifungen, uneheliche Kinder und nicht zuletzt den sexuellen Missbrauch.
Was will mir diese Institution moralisch denn dann noch sagen? Da kümmere ich mich lieber selbst um meine moralischen Werte und lasse mir "nichts vorschreiben". Es reichten doch bestimmte "Grundregeln", alles andere sei dem Individuum freizulassen.
Diese Gedanken sind absolut nachvollziehbar und ihnen ist vielleicht auch teilweise zuzustimmen.
Aber das, was man als "eigene Moral" bezeichnet, ist nichts, was aus dem Menschen gänzlich selbst heraus kommt, sondern der Mensch ist moralisch auch ein Produkt seiner Erziehung, Umwelt, Medien, usw.
Die "Grundregeln" fußen zu einem großen Teil auch auf dem jüdisch-christlichen Erbe, was die Würde des Menschen angeht, der individuellen Beurteilung (durch Gott), moralischen Grundregeln in Beziehungen (seien sie freundschaftlich, familiär oder partnerschaftlich bzw. wenn sie eine körperliche Komponente haben).

Meine These: Wir haben es mit einer fortgeführten und individualistisch "übersetzten" jüdisch-christlichen Ethik zu tun, die aber ihren "Stamm" (nämlich eben der jüdisch-christlichen Ethik) abstoßen will, ohne den sie eigentlich in dieser Form nicht existieren würde.

(3)   Das individualistische Gottesbild ist auf das jüdisch-christliche Gottesbild zurückzuführen; dies zeigt sich auch und vor allem in der Religiosität, d.h. im praktischen Ausüben des Glaubens.

Viele der Menschen, die einen individualistischen Gottesglauben haben, beten, so denke ich, nicht anders als Juden, Christen oder Muslime insofern, als dass sie einen Gott persönlich ansprechen.
"Lieber Gott, mach doch bitte..." oder "Gott, ich danke dir für..."
Die Vorstellung eines Gottes, den man persönlich ansprechen kann, und mit dem man eine Beziehung herstellen kann, kommt klar aus dem jüdisch-christlichen Gottesbild, da der christliche Gott zuerst in der Geschichte des Volkes Israel und dann in Jesus von Nazareth mit den Menschen in direkte Kommunikation, in eine direkte Beziehung, gegangen ist.
Weiterhin ist die Vorstellung, dass man "gut zu den Menschen sein sollte, um Gott zu gefallen" ebenfalls auf das jüdisch-christliche Gottesbild zurückzuführen. Das Gebot der Nächstenliebe, das "Erkennungsmerkmal" überhaupt für den christlichen Glauben, ist bereits im Alten Testament zu finden und natürlich bei Jesus selbst. Pointiert wird dies bei dem Ausspruch von Jesus "Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Matthäus Evangelium, Kapitel 25, Vers 40).
Dies deckt sich dann perfekt mit der Überzeugung, nicht mehr "einem Papst oder einem Bischof gefallen zu müssen" (was de facto ja auch nicht Voraussetzung für den (katholisch-)christlichen Glauben ist).

Meine These: Selbst wenn man nicht explizit an den monotheistischen Gott glaubt, greift der praktizierte (individualistische) Glaube auf die Grundlagen von zweijahrtausend Jahren jüdisch-christlicher religiöser Praxis zurück.

3   ZWEI Thesen, warum der vermeintlich unabhängige individualistische Gottesglaube nicht alles "besser" macht als der kirchliche jüdisch-christliche Glaube

(1)   Individualistisch bedeutet auch, dass die letzte Instanz das eigene Gewissen und eigene Ansichten sind, was u.U. problematisch werden könnte.

Ich versuche, diese These mit einem Beispiel zu untermauern:
Ein Mensch vertritt einen solchen individualistischen Gottesglauben. Er hält sich an gängige Gesetze und grundsätzliche moralische Vorstellungen. Gleichzeitig hat er mehrere wechselnde Partner/innen. Er begeht kein Verbrechen im juristischen Sinne, vielleicht kann er es moralisch vor sich selbst rechtfertigen und letztlich beachtet er doch die "Grundregeln".
Diese Sicht, die eigentlich ein freiheitliches Leben suggerieren soll, ist aber stark begrenzt. Vielleicht entwickelt eine/r der Partner/innen, mit denen er nur kurz zusammen ist, stärkere Gefühle für diesen Menschen, die er nicht erwidern kann, aber gleichzeitig fahrlässig in Kauf nimmt.
Und genau hier würde meine Kritik ansetzen: Im Zweifelsfall ist man selbst die letzte Instanz für einzelne Fragen des Lebens, was im Sinne der kantschen Verunftkritik ja auch absolut berechtigt und auch ratsam ist, allerdings überträgt man seine individualistische Sicht auf andere und hat in den Einzelfragen keine Sensibilität dafür, dass man das Verhältnis zu Gesellschaft, Mensch und Gott nur aus dem eigenen Horizont heraus bestimmt.


Meine These: Ein individualistischer Glaube muss nicht dazu führen, was ich gerade beschrieben habe. Aber die "Gefahr" ist größer.


(2)   Der individualistische Gottesglaube ist anfälliger für eine "projiziertes" Gottesbild, wie es Feuerbach kritisiert hat.

An dieser Stelle sei auf meinen Beitrag in diesem Blog zu Ludwig Feuerbachs "Das Wesen des Christentum" und Ludwig Feuerbachs "Projektionshypothese" verwiesen.
Kurz zur Erinnerung: Ludwig Feuerbach hat gesagt, dass der (jüdisch-christliche) Gott ein vom Menschen "erfundenes" Wesen sei, auf den die entsprechenden (und gewünschten) Eigenschaften des und durch den Menschen projiiziert werden.
Nimmt man sich nun noch einmal das individualistische Gottesbild vor, dann sehe ich dieses Gottesbild anfällig für eine solche Projektion. Wenn jemand sagt, dass "sein" Gott für ihn so oder so sei, dann reduziert er Gott nicht nur, sondern er wird (wahrscheinlich unterbewusst und wahrscheinlich werden diese Menschen das auch nicht zugeben (wollen)) eigene Erfahrungen, Sichtweisen, biographische Aspekte in das Gottesbild aufnehmen. Das Gottesbild eines Menschen aus der reichen Oberschicht, der in einer Villa mit viel Luxus aufgewachsen ist, wird sich dann höchstwahrscheinlich massiv von dem Bild eines Menschen, der in bitterer Armut aufgewachsen ist und nie eine Chance auf ein besseres (ökonomisches) Leben hatte, unterscheiden. Genauso massiv könnte sich das Gottesbild eines glücklichen Familienvaters, der glücklich verheiratet ist und zwei gesunde Kinder hat, von dem Gottesbild eines Vaters, der geschieden ist und ein Kind durch einen Autounfall verloren hat und dessen zweites Kind behindert ist, unterscheiden.
Es kommen solch unterschiedliche Gottesbilder zusammen, dass es überhaupt keinen Konsens mehr gäbe. Und dann gehe ich soweit, dass diese Menschen eigentlich gar nicht mehr an einen Gott, sondern an mehrere Götter glauben.
Oder dass sie eben nur einen projizierten Gott im Kopf haben, der aber nur ein "Puzzle" ihres Lebens wäre.


4   ZWEI Thesen, warum ich mich für den christlichen Gott statt eines im "luftleeren" Raum stehenden individualistischen Gott entscheide.


An dieser Stelle möchte ich nochmals betonen, dass ich damit dem hier erläuterten individualistischem Glauben nicht das "Existenzrecht" abspreche oder als weniger wert als meinen Glauben darstellen möchte; so etwas liegt mir fern. Ich möchte nur auf die (vermeintlichen) Wurzeln dieser Glaubensvorstellungen hinweisen und die (vermeintlichen) Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausstellen sowie mögliche kritische Gedanken.


(1)   Ich möchte eine Beziehung zu dem jüdisch-christlichem Gott, weil ich damit einen konkreten Gott vor mir habe.

Wenn ich bete, dann bringe ich selbstverständlich wie jeder andere gläubige Mensch persönliche Anliegen vor Gott. Ich bete für andere Dinge als andere Christen und ich beklage unter Umständen andere Dinge als andere Christen. Dennoch bete ich auch bestimmte Gebete wie das "Vater unser" oder bestimmte Psalmen immer wieder, weil ich einen konkreten Gott anspreche, nämlich den christlichen Gott. Und zu diesem Gott gehört ein entscheidender Aspekt, der bei individualistischen Glaubens- und Gottesvorstellungen fehlt bzw. nicht diese entscheidende Komponente hat: Offenbarung.
Der christliche Gott hat sich in Jesus Christus offenbart, um es dogmatisch auszudrücken, und von dieser Offenbarung zeugt das Neue Testament. Gott zeigt sich dort mit bestimmten Eigenschaften, drückt sich in einer bestimmten Art und Weise aus und zeigt einen grundlegenden Weg auf.
Deshalb gibt es bestimmte Formen und Formeln, mit denen ich einen Zugang zu Gott finden kann, genauso, wie es bestimmte Formen und Formeln gibt, mit denen ich Zugang finden kann zu meinem Chef, die sich wiederrum von den Formen und Formeln unterscheiden, wie ich Zugang zu meinen Eltern finden kann, usw.
Jedes Mal mache ich mir damit klar, dass ich sozusagen ein- und denselben Gott anspreche, der sich aber in meinem bzw. in unserem Leben auf vielfältige Weisen zeigt bzw. zeigen kann.


(2)   Ich bin mir meiner Begrenztheit bewusst und dass Gott vielleicht im Detail anders ist als ich ihn anspreche oder mir vorstelle, dennoch habe ich immer den Gott, nämlich den jüdisch-christlichen Gott vor Augen.

Dieser Aspekt schließt an den ersten Punkt an. Ich habe einen konkreten Gott vor Augen und dennoch ist mir bewusst, dass er vielleicht gar nicht so konkret im Leben (in meinem Leben) ist, wie ich mir das wünsche, erhoffe, etc. Würde ich daher nur meine eigenen Vorstellungen und meinen eigenen "Filter" einsetzen, um mein Gottesbild entstehen zu lassen, dann würde ich Gott (dem ja auch individualistische Gläubige i.d.R. Eigenschaften wie Unendlicheit, Allmacht oder Allwissen zusprechen) reduzieren und eingrenzen.
Die Grundvorstellungen des konkreten jüdisch-christlichen Gottesbildes "schützten" mich somit von dieser Einengung, da sie ernst nehmen, dass Gott für alle Gott ist und mit allen Menschen eine Beziehung hat.